Juli 2017

Hotel

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Ja, das scheint ein klassisches Gemälde zu sein. Auf den ersten Blick. Wenn man genauer hinsieht, merkt man: Hier stimmt was nicht. Hier stimmt sogar eine ganze Menge nicht. Nach einer gewissen Zeit der Prüfung erkennt jeder, der auch nur für einen Groschen Geschmack hat, wie total vergeigt dieser Schinken ist. Ihre Augen. Ihre Brust. Die Art, wie sie dieses blumentopfdekorierende Figürchen berührt, das zwar geschlechtslos ist, sich aber irgendwie erwartungsfroh in ihre Berührung hineingibt. Der Blumentopf hingegen scheint völlig gewichtslos zu sein. Ihr linker Unterarm ist wohl nicht recht mit dem Rest des Körpers verbunden, aber ihr Kleid fällt im Schulter- / Oberarmbereich auf eine Weise, dass man vermuten muss, der linke Oberarm von Hulk Hogan sei einem Frauen-Imitat transplantiert worden; Studio Frankenstein lässt grüßen. Theoretisch wäre das schon ganz praktisch, sollte der Blumentopf doch ein Gewicht haben. Der Hintergrund hat natürlich gleichfalls charmante Surrealitäten zu bieten. Wälder, die sich spontan in Giftgas verwandeln, sind der Menschheit ja bisher unbekannt – aber wer sagt eigentlich, dass sich diese Szene auf der Erde abgespielt haben soll?

Ich habe eine Menge verwunschene Hotelkunst gesehen, aber das hier ist das wunderbarste und erschreckendste Beispiel, das mir je aufgefallen ist. Meine Hassliebe zu dem Genre ist durch den untoten Blick dieses Wesens auf ein ganz neues Niveau angehoben worden. Beeindruckend, wie nachhaltig hier Kunst vermieden wurde. Da sollte irgendeine Form von Bedeutung sein, aber es gibt keine. Die pynchoneske Finsternis, mit der dieser Dreck nur so getränkt ist, schlägt jeden Max Ernst um Längen. Wer auch immer hier am Werk war, hat einen sehr seltsamen Humor. Oder er ist ein Alien.

Und dieses bestimmte Berliner Hotel war bis zum Dach voll mit ähnlichem Mist. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Englisch

Moos

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Diesen Ort abgelegen zu nennen, wäre eine Untertreibung. Ein winziger jüdischer Friedhof im Wald bei Unterschwandorf (Stadt Haiterbach, Baden-Württemberg). Angelegt wurde er 1801. Die letzte Beisetzung fand 1879 statt, nachdem sich die Jüdische Gemeinde in den 1860ern aufgelöst hatte. Die Synagoge war aufgegeben worden und verfiel, wie der Friedhof selbst auch. 1969 beschlossen die Unterschwandorfer, ihren jüdischen Friedhof wiederherzustellen. 1996 wurde der Friedhof von Neonazis geschändet. Heute herrscht dort eine märchenhafte Atmosphäre, weil Moos fast das ganze Gelände und einige der Grabsteine überzieht. Es gedeiht auch in dem umliegenden Wald prächtig. Ich musste über die Leute nachdenken, die dort beerdigt worden waren. Sie hatten Diskriminierung erfahren und schreckliche Gewalt, wie während des Pogroms von 1848 in der Nachbarstadt Baisingen. Sie hatten sicher auch Zeiten der Normalität und der relativen Sicherheit gekannt, wie ihre christlichen Mitbürger. Keiner von ihnen hätte sich träumen lassen, was mit seinen Nachkommen ein paar Generationen später geschehen würde. Ich bin nicht religiös, aber ich ließ einen Stein da.

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Haus

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Ich bin schon in vielen Schlössern gewesen. Als europäisches Kind machst du das halt so, wenn deine Eltern auf Allgemeinbildung aus sind. Und als Tourist machst du das halt auch so – Schlösser und Kirchen besuchen, weil dort ja anscheinend Geschichte geschrieben wurde. Kirchen und Schlösser gibt es in prächtig bis nonexistent. Die prächtigen Exemplare sind voller langweiliger Wunder. Die anderen sind Ruinen, immer noch schön in ihrer annähernden Nichtexistenz. Auch in den Prachtbauten fühlt man sich oft einsam. Könige sind Mangelware. Die Geistlichen, die man sieht, gleichen den Portraits ihrer Vorgänger nicht, die an den Wänden hängen. Die Gebäude machen den Eindruck von leeren Hüllen, selbst wenn sie bis oben hin voll sind mit Skeletten und Gold. Du und die anderen Touristen, ihr seid nicht gerade hilfreich mit eurer Verblüffung und Ahnungslosigkeit. Was geht hier vor?

Dann wird dir klar: Die Könige sind in die Klatschpresse abgewandert. Sie tragen Säuglinge aus Geburtskliniken und besuchen Schweinezüchter auf ihren Höfen. Sie tun oft, was die gewöhnlichen Leute auch tun: Sie essen, heiraten und fahren Ski. Wenn man sie förmlich ansprechen will, dann haben sie sehr lange Namen, aber die Boulevardblätter nennen sie „Sophia“ und „George“. Das käme bei gewöhnlichen Leuten nicht vor. Die Geistlichen sind jetzt im Fernsehen. Meistens predigen sie von Balkonen herunter, gelegentlich auf Latein. Manche von ihnen äußern sich gern zu der Frage, wer mit wem ins Bett gehen darf. Es ist ein bisschen verwirrend, ehrlich gesagt, und möglicherweise nicht einmal völlig harmlos.

Häuser

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Auto

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Wer sich auf sein Erwachsenendasein vorbereiten wollte, der kümmerte sich um Autos. Autos waren groß und wichtig; sie waren für Erwachsene unabdingbar. Wer ein Auto besaß, der hatte es ja so ziemlich geschafft. Der war eine ernstzunehmende Person; jemand, mit dem man rechnen musste. Es stimmte schon, Autos waren teuer in Anschaffung und Unterhalt. Aber wer ihre kostspieligen Bedürfnisse befriedigen konnte, dem verliehen sie Macht und Ruhm.

Einmal brandmarkte ich einen Ledersitz im Auto meines Vaters mit dem Zigarettenanzünder. Sein Gesicht wurde weiß vor Wut. Er konnte mich nicht einmal schlagen, so wütend war er. Als ich an der Reihe war, suchte ich nach autolosen Wegen des Erwachsenwerdens.

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Fund

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Den blaugrünen See hatten wir ja vorher schon gefunden. Dann in das kleine, extrem mittelalterliche Dorf, von dem wir uns nicht viel mehr als Tourismus erwarteten; unseren eigenen und den der anderen. Den gab es auch reichlich, markiert durch Dekorationen, mittelalterfestliche Flaggen und urige Schrifttypen, die niemand braucht oder je gebraucht hat. Ein Italiener trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Italia" und fotografierte, wie ich ihn fotografierte. Außerdem fanden wir auch noch Glaubensbekenntnisse, Eidechsen, lachende, ganz moderne Mädchen beim Essen, und ein Licht, das die Architektur von wahrhaft übertrieben alten Gebäuden mit übertrieben dicken Mauern hart feierte. Und ein anderes, auf deinem Gesicht, für das meine Kamera plötzlich bereit war. In den Tagen danach präsentierte sich uns der Franzose, der wahrscheinlich früher beim Militär gewesen war, so schneidig stellte er sich auf dem Monte Baldo hin. Die schwarzweiße Postkarte, die ich fand, mitten in der Landschaft. Das Hotel Caravel, so konkret wie der Reim, der es zusammen hielt. Der gelbe Schlauch bei beginnendem Regen. Und die Fähigkeit des Sees, sich am Abend in einen kleinen Ozean zu verwandeln.

Funde

Der ganze See

Accumulazione musicale [mp3]